Der Kürbis

  

  1

 

Sein Stapel mühevoll bewältigter Fallberichte stürzte zusammen. Dossiers krachten zu Boden. Papiere segelten umher.

Georg Tanner stützte sein Kinn auf die Fäuste.

Ach, die Weihnachtszeit ... an jeder Ecke säuselte es Friede, Freude, Eierkuchen. "Fest der Liebe" flötete es in die Ohren, jedermann beschwor die Besinnlichkeit. Aber genau in dieser Zeit hatte die Sektion Leben der Kripo besonders viel zu tun. Beziehungsdramen, unklare Todesfälle, Suizide. Deshalb hatte er es immer noch nicht geschafft, ein Weihnachtsgeschenk für seine Freundin Anne zu besorgen.

Die friedliche Weihnachtszeit war ein Mythos. Der Schnee hatte die Strassen in ein Chaos biblischen Ausmasses verwandelt. In den Kaufhäusern herrschte Krieg. Schlangen entnervter Konsumenten wanden sich vor den Pakettischen. Belagerte Verkäuferinnen wickelten und banden um ihr Leben.

Er richtete sich im Sessel auf. Für den Moment waren alle Fälle abgeschlossen. Peter Diener, Kurt Schwab und Annegreth Weber, seine Leute von der Sektion Leben waren schon ein paar Stunden im Feierabend. Sobald er die Dossiers für die Staatsanwaltschaft bereit hatte, konnte er sein Geschenk für Anne besorgen. Aber die Dossiers waren jetzt auf dem Büroboden verstreut.

Sein Telefon läutete. Das war kein gutes Zeichen.

Es war ein Kollege von der Bereitschaft. "Herr Tanner, wir haben eine Leiche."

Adieu Weinachtseinkauf. Er seufzte. "Ich komme."

 

2 

 

Nicht weniger als vier Streifenwagen standen mit kreisenden Blaulichtern am Fundort. Wie hatten es all die Kollegen bloss geschafft, so schnell durch den Verkehr zu kommen? Und dort stand Kurt Schwabs Dienstwagen. Was machte der hier? Er sollte doch längst zu Hause den Weihnachtsbaum schmücken.

"Hallo, Herr Tanner. Da sind Sie ja", begrüsste ihn ein uniformierter Kollege. Der Stimme nach war es der gleiche, der vorhin angerufen hatte.

"Sie haben hier ja ein ganz schönes Aufgebot", antwortete er. "Sieht nach einer grösseren Sache aus."

"Ich kann nur sagen: Grauenhaft!" Der Kollege wirkte ziemlich mitgenommen. Aber er war jung. Hatte wohl noch nicht sehr viel gesehen.

"Wer hat die Leiche gefunden?"

"Eine Frau. Sie wartet dort drüben." Der Kollege wies auf einen Streifenwagen.

"Mein Name ist Tanner", begrüsste er die Frau, "ich leite die Ermittlungen. Kann ich Ihnen ein paar Fragen stellen?"

Die Augen der Frau waren heftig geschminkt. Unter einem knallbunten Kopftuch schauten wirre Haare hervor. Ein dicker Schal verdeckte halb das Gesicht. "Es war grauenhaft", flüsterte sie. "Ich habe noch nie so etwas gesehen."

"Wie haben Sie die Leiche gefunden?" Irgendwie kam ihm die Frau bekannt vor ...

"Ich ging um die Ecke ... und da lag er ..." Ihre Stimme erstarb. Sie verbarg das Gesicht in den Händen. Ihre Schultern bebten als sie schluchzte.

Das musste ... wirklich schlimm gewesen sein. Mit gemischten Gefühlen ging er zum abgesperrten Fundort. Dort traf er auf Peter Diener und Kurt Schwab. Keine Ahnung was die beiden hier machten. Er hatte sie vor Stunden nach Hause geschickt.

"Hallo, Herr Tanner", begrüsste ihn der Diener. "Wir haben ja schon einiges gesehen, aber das ist wirklich grauenhaft." Schwab nickte mit verkniffenen Lippen.

"Was ist denn nun los? Alle sagen, es sei grauenhaft."

"Dr. Bernstein untersucht den Leichnam gerade. Von ihm werden Sie mehr erfahren. Ich an Ihrer Stelle würde mir den Anblick ersparen."

Wenn sogar Diener seinen robusten Humor verlor, erwartete ihn etwas Übles.

"Ach, Herr Tanner. Sie auch hier."

Dr. Bernstein, der Rechtsmediziner kam gerade von der Leiche zurück. Er sah bedrückt aus. Und das bei Bernstein, der sich einiges gewohnt war.

"Was können Sie mir zum Fall sagen?" fragte er den Mediziner.

"Es ist eine Riesenschweinerei. Grauenhaft."

"Todesursache?"

"Kann ich noch nicht sagen."

"Erschossen, erschlagen, erstochen?"

"Ja, kann sein."

Was war denn das für eine Antwort?

"Georg!" hörte er eine weibliche Stimme. Das war Anne, seine Freundin. Wieso war sie hier? Gut, sie arbeitete in der Nähe und war vielleicht zufällig vorbei gekommen ...

„Anne ... schön dich zu sehen", sagte er und lächelte sie etwas gezwungen an. "Du musst mich leider entschuldigen, aber wir haben hier einen schlimmen Fall. Grauenhaft." Jetzt benutzte auch er schon dieses Wort ...

"Ich verstehe", sagte sie. Ihre grünen Augen blickten ärgerlich. Sie wusste, was so ein Leichenfund kurz vor Weihnachten bedeutete. Nämlich keine Zeit für eine schöne Feier. "Wir sehen uns", sagte sie kurz und wandte sich ab.

In solchen Momenten verfluchte er seinen Job. Er schaute hinter ihr her, bis sie um eine Ecke erschwand. Dann atmete tief ein und duckte sich unter der rotweissen Absperrung durch.

Die Kollegen von der Spurensicherung arbeiteten in ihren weissen Plastikstoffoveralls rund um die Leiche. Sie lag in einem engen, dunklen Gang zwischen verwitterten Gebäuden, war kaum zu erkennen. Dass die Kollegen noch keinen Scheinwerfer aufgebaut hatten ...

Also - jetzt galt es. Er schaute genauer hin.

Der Tote war in einen langen roten Mantel gehüllt. Unter der Kapuze schaute weisses Harr und ein langer weisser Bart hervor.

Der Tote war ein Samichlaus!

Es war erst zwei Jahre her, da hatte er schon einmal einen toten Samichlaus gehabt. Chläuse entwickelten sich langsam zu einer Risikogruppe während der Weihnachtszeit.

Der Schnee rund um den Chlaus war rot gefärbt. Von der Lache stieg ein eigenartiger Geruch auf ... Das Gesicht des Toten war hinter Perücke und Bart verborgen. Er ging in die Hocke. Vorsichtig öffnete er den Mantel des Toten. Er konnte die atemlose Spannung der Kollegen in seinem Rücken förmlich spüren. Kein Laut war zu hören, nur die gedämpften Strassengeräusche.

Was war das?

Es sah aus, als ob der Chlaus einen orangen Pullover trug. Obwohl ... die Oberfläche des Kleidungsstückes war eher ledrig - mit eigenartiger Struktur. Er zog den Mantel ganz auf. Zum Vorschein kam eine grosse orange Kugel.

Ein Kürbis.

Langsam stand er auf und betrachtete die da liegende Gestalt genau. Die Ärmel des Mantels waren mit Stroh ausgestopft, genau wie die Hose, die in schweren Stiefeln steckte. Nun erkannte er auch den Geruch des Blutes. Es war Ketchup.

Schnell drehte er sich um - und schaute in zwei Dutzend grinsende Gesichter. Die Kollegen waren unbemerkt näher gekommen. Einige pressten sich die Hände vor den Mund um nicht zu lachen.

Peter Diener war der erste, der losprustete. Bald stimmten die anderen ein. Auch Anne war zurückgekommen und lächelte ihn spöttisch an. Die vermeintliche Zeugin stand neben ihr, ohne Kopftuch und Perücke. Es war Daniela, Peter Dieners Frau. Werner Burckhardt, der Kripochef schälte sich aus einem weissen Plastikoverall. Er hatte sich unter den Trupp der Spurensicherung gemischt.

"Ihr habt mich ja schön reingelegt." Tanner stemmte die Fäuste in die Seiten und schüttelte langsam den Kopf. "Was fällt Euch ein, so mit dem Schrecken Scherz zu treiben?" Er schwankte zwischen Ärger und Freude über den Streich, den die Kollegen ihm gespielt hatten.

"Nicht übel, die Inszenierung, nicht wahr", fragte ihn Dr. Bernstein.

"Ach was, grauenhaft", antwortete er todernst. Dann konnte er sich das Grinsen nicht mehr verkneifen. "Aber warum das Ganze?"

"Herzliche Gratulation zum Jubiläum", rief Kripochef Burckhardt.

"Jubiläum?"

"Revolverhelden schneiden bekanntlich für jede Leiche eine Kerbe ins Schiesseisen. Bei uns steht es im Jahresbericht", erklärte Burckhardt. "Seit es deine Sektion gibt, habt ihr vierhundertneunundneunzig Leichen gehabt. Das dort ist eure fünfhundertste."

Vierhundertneunundneunzig! Seit bald dreizehn Jahren war er Chef der Sektion Leben. Sicherlich, in dieser Zeit hatte er unzählige Tote gesehen. Unfälle, Suizide, Drogenopfer, Verbrechen - aber so viele ... er seufzte.

"Zum Glück ist die fünfhundertste nur ein totes Gemüse."

"Darauf stossen wir an", rief Peter Diener und winkte alle zu einem der Streifenwagen. Auf der Motorhaube hatte jemand Gläser und Plastikteller bereitgestellt. Vor dem Wagen stand eine militärgrüne Kochkiste und dampfte in die kalte Nacht.

"Und es gibt Kürbissuppe!" sagte Burckhardt.

"Ihr habt euch ja was ausgedacht. Fehlt nur ein Weihnachtsbaum."

"Schon da", sagte Diener und stellt eine winzige Plastiktanne auf die Motorhaube. "Und jetzt singen wir „Oh du Fröhliche."