Die Entführung

 

1

 

"Mein Mann ist ermordet worden!", plärrte das Telefon in Georg Tanners Ohr hinein.

Auch das noch. In der Adventszeit hatten er und sein Team von der für Todesfälle zuständigen Sektion Leben der Kriminalpolizei ohnehin immer viel zu tun - wegen der Suizide. Da brauchte er nicht auch noch einen Mord.

"Mit wem spreche ich?" fragte er die Anruferin.

"Spelzer!", rief sie schluchzend ins Telefon.

"Woher rufen Sie an?" Er hielt den Hörer etwas von seinem Ohr weg.

"Da ist Blut, so viel Blut."

Das klang nach einem wirklich üblen Verbrechen. "Sie müssen uns schon sagen, wohin wir kommen sollen."

"So kurz vor Weihnachten. Mein Walter - tot."

"Ihre Adresse bitte."

"Wangerstrasse." Es keuchte aus dem Hörer. Hoffentlich begann sie nicht zu hyperventilieren. "Nummer 73."

Es war Eile angesagt. Nicht wegen des Toten - dessen Gesundheit konnte sich wohl nicht mehr verschlechtern. Aber Frau Spelzer brauchte schnellstmöglich Betreuung.

Er legte den Hörer auf, alarmierte die Rettung und die Bereitschaft und wählte dann eine interne Nummer.

"Schwab, es gibt Arbeit für den Maserati."

"Komme", antwortete sein Kollege in gewohnt knapper Art und legte auf.

 

2

 

Erste Schneeflocken fielen, während Schwab seinen aussergewöhnlichen Dienstwagen mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch die belebten Strassen der Stadt lenkte. Einige Mal konnte er Geschenkpakete tragenden Fussgängern nur ganz knapp ausweichen. Wie üblich würden sie lange vor den Kollegen und vor der Rettung vor Ort sein. Schwabs Gesicht wirkte hochkonzentriert aber dennoch entspannt. Tanner versuchte sich auf das beruhigend regelmässige „Tatü-Tatü" der Sirene zu konzentrieren. Wenn er doch bloss gleich entspannt im Wagen sitzen könnte wie Schwab. Aber der fuhr immer am absoluten Limit - das liess keinen Beifahrer kalt. Er verdrängte den Gedanken, dass der immer dichter fallende Schnee die Strassen rutschig machen könnte.

Endlich war die Wangerstrasse erreicht. Schwab verlangsamte. Tanner atmete auf und spähte nach der Nummer 73. Eigentlich sollte sie leicht zu finden sein, überlegte er. Denn wenn Frau Spelzer in ihrem Haus auch so herumschrie wie am Telefon, hatte sich sicher schon eine Menschenansammlung gebildet.

Aber die Wangerstrasse war ein Quartier der gehobenen Klasse. Baumreihen auf beiden Seiten, die Gehwege dahinter, Villen in grossen Gärten - hier liess man sich von ein paar hysterischen Schreien nicht aus dem Haus locken. Jedenfalls sah er Frau Spelzer allein vor einem teuren BMW stehen. Sie war in einen Morgenmantel gehüllt und schlotterte. Sobald der Dienstwagen still stand, schwang er sich hinaus und eilte zu ihr. Er streckte ihr die Hand zur Begrüssung hin. Sie schien sie nicht zu bemerken, sondern starrte stumm auf das Auto.

"Tanner mein Name. Dies ist mein Kollege Schwab", stellte er sich und seinen Mitarbeiter trotzdem vor. „Wo ist die Leiche?"

"Ich weiss es nicht", antwortet sie leise.

"Entschuldigung, ich habe sie nicht verstanden."

Unvermittelte drehte sie sich zu ihm hin. "Ich weiss es nicht." Sie starrte ihn aus brennenden Augen an. Er runzelte die Stirn.

"Sie haben uns gemeldet, dass Ihr Mann ermordet wurde. Da erwarte ich - ehrlich gesagt - eine Leiche."

"Da ist das viele Blut in seinem Wagen."

Sie schaute wieder stumm in den BMW hinein, und er folgte ihrem Blick. Das cremefarbene Lederpolster der vorderen Sitze war voller Blut. Vor allem der Beifahrersitz sah übel aus.

"Ja, das ist tatsächlich viel Blut. Ihr Mann scheint zumindest verletzt zu sein. Aber das heisst noch nicht, dass er tot ist."

"Dann wurde er halt entführt."

"Ja, was denn nun?"

"Ich weiss es doch nicht. Walter ist auf jeden Fall weg, obwohl er kurz vorher mit dem Wagen angekommen ist. Wahrscheinlich wurde er genau hier überfallen und dann verschleppt."

"Nun mal langsam, Frau Spelzer. Wahrscheinlich gibt es eine ganz einfache Erklärung für diese Sache."

"Und wahrscheinlich ist der Metzger darin verwickelt."

"Na gut, das Blut könnte auf ein scharfes Messer hinweisen, aber ..."

"Nein, nein, der Nachbar rechts. Der heisst Metzger. Ich habe gesehen, dass er zum Auto rannte, nachdem mein Mann vorgefahren war. Er hat ihn sicher angegriffen und dann verschleppt."

"Haben sie einen Schuss gehört oder Schreie?"

"Nein."

"Sie sagten, Sie hätten den Nachbarn herbei rennen gesehen. Haben Sie denn nicht beobachtet, was beim Auto vor sich ging.

"Ich war im Schlafzimmer oben. Von dort kann man nicht hierher sehen. Als ich aus dem Haus kam, war schon keiner mehr da."

"Herr Tanner", rief Schwab und deutete auf den Boden vor dem BMW. "Blutspuren."

Der fallende Schnee hatte bereits einen weissen Schleier über den Boden gelegt, aber die Bluttropfen waren noch zu erkennen.

"Hier noch mehr." Schwab ging in gebückter Haltung Schritt um Schritt auf dem Gehweg nach links.

Das ist wie Hänsel und Gretel, dachte Tanner. Immer den weissen Kieseln - oder eben den roten Bluttropfen - nach, dann findet man was man sucht. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Frau Spelzer sich scheinbar unvermittelt wegdrehte und zu ihrem Haus lief. Dann bemerkt er, dass drinnen das Telefon läutete.

"Wir gehen erst mal den Blutspuren nach, solange man sie noch erkennen kann unter dem Schnee."

Es wurde zusehends schwerer die roten Tropfen auf dem Trottoir zu erkennen. Vor dem Eingangstor der Nachbarliegenschaft links von Spelzers verloren sie sich schliesslich ganz.

"Herr Polizist", hörte er Frau Spelzer rufen, die sichtlich aufgeregt aus dem Haus gelaufen kam. Er kehrte zum BMW zurück.

"Er ist eindeutig entführt worden", sagte sie heftig atmend. "Er hat angerufen und gesagt, ich solle Geld bereit machen."

"Immerhin lebt er. Hat er gesagt, wo oder in wessen Gewalt er ist?"

"Nein. Er war ganz aufgeregt und hat nur gesagt: "Mach Bargeld bereit" und sofort aufgelegt." Da umwölkten sich ihre Augen. "Er hat nicht einmal gesagt, wie viel Geld sie wollen."

 

3

 

Endlich kamen die Kollegen von der Bereitschaft angefahren, knapp dahinter ein Rettungswagen. Tanner erklärte den Kollegen in groben Zügen worum es ging und diese begannen sofort mit Sicherungs- und Absperrarbeiten rund um Spelzers Wagen. Die Rettungssanitäter wies er an, sich um die Frau zu kümmern.

"Die Blutspuren führen zum Nachbarhaus hin", meldete Schwab. "Bin ein paar Schritte den Gartenweg hochgegangen."

"Sehen Sie, ich hatte Recht", sagte Frau Spelzer. "Er wird dort festgehalten. Und nun soll ich Lösegeld bezahlen."

"Wer wohnt dort?", fragte Tanner.

"Doktor Grübel."

"Schwab, schauen Sie doch noch schnell, ob der Metzger, der Nachbar rechts, zu Hause ist." Schwab nickte und ging los.

Sein Gefühl sagte ihm zwar nach wie vor, dass es für die Blutspuren eine andere Erklärung als eine Entführung geben musste. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Spelzer von seinen Nachbarn zur Rechten und zur Linken geschnappt worden war und nur gegen ein Lösegeld wieder frei kommen sollte. Aber es war trotzdem besser, auf Nummer sicher zu gehen. Er rief in der Zentrale an und benachrichtigte die Geiselnahme-Spezialisten, dass sie sich für einen Einsatz bereit machen sollten. Denn das schien ja eigentlich keine Angelegenheit für die Sektion Leben zu sein. Zumindest noch nicht.

"Keiner da", meldete Schwab, der vom Metzgerhaus zurückkam.

 

4

 

Kaum eine Viertelstunde später war der Tatort abgesperrt. Die für Geiselnahmen ausgebildeten Kollegen waren eingetroffen. Sie waren dabei, die Wangerstrasse an beiden Enden dicht zu machen und die nächsten Anwohner zum Verlassen ihrer Häuser aufzufordern. Das Sondereinsatzkommando war informiert und erstellte in der Parallelstrasse Bereitschaft. Es schneite mittlerweile so stark, dass es schwierig wurde, den Überblick über die Szene zu behalten. Tanner hatte die Leitung der Aktion an die Kollegen abgegeben. Schwab und er blieben nur zur Unterstützung vor Ort. Frau Spelzer wurde von einer Polizeipsychologin betreut. Sie sass neben dem Telefon und wartete auf einen Anruf ihres Mannes.

Natürlich hatte die Presse bereits mitbekommen, dass etwas los war.

"Schwab!" Tanner rief seinen Kollegen zu sich. "Da drüben kommt die Kliebenschädel, die Reporterin vom Blatt. Bitte halten Sie mir die vom Hals."

Schwab runzelte die Stirne.

"Schwerer Auftrag. Werde mein Bestes tun."

Die Reporterin war wie immer elegant gekleidet. Sie trug in der Linken einen vom Schnee weissen Regenschirm, in der Rechten eine grosse Tasche. Von Schwab liess sie sich nicht aufhalten, sondern stöckelte einfach an ihm vorbei und stand schon gleich vor Tanner.

"Hallo, Herr Tanner. Was ist denn hier los? Eine Entführung habe ich gehört."

"Frau Kliebenschädel, sollten Sie um diese Jahreszeit nicht eher besinnliche, weihnachtliche Artikel schreiben? Von Verbrechen mag doch jetzt keiner was lesen."

"Gewalt ist gerade jetzt hoch im Kurs", sagte sie. "Denken Sie nur an die gnadenlosen Kämpfe in den Warenhäusern, wenn es ums Vorwärtskommen an den Kassen und Päcklitischen geht."

Die Kollegen waren offenbar bereit. An strategischen Stellen standen Dienstwagen, dahinter verbargen sich bewaffnete Polizisten. Der Leiter der Aktion hatte sich hinter einen Baum gestellt und machte ein Megafon bereit. Der Schnee fiel in dicken Flocken und dämpfte die Geräusche. Es war fast gespenstisch still.

"Ich bin genau zur richtigen Zeit gekommen, wie es scheint", sagte die Reporterin und grinste Tanner an."Hier, halten Sie meinen Schirm." Überrascht von ihrer Frechheit gehorchte er wortlos. Sie zog eine Digitalkamera aus ihrer Tasche und schoss Fotos von der Szenerie.

Der Kollege beugte sich hinter seinem Baum hervor und rief ins Megafon. "Hier spricht die Polizei!"

Im gleichen Moment öffnete sich die Tür von Doktor Grübels Haus. Drei Männer traten heraus und blieben davor stehen. Sie schauten sich um. Einer der Männer trug einen stark bandagierten Hund auf dem Arm. Das weisse Hemd des zweiten war blutverschmiert. Der Dritte war in einen Arztkittel gekleidet.

"Was ist denn hier los", fragte dieser.

"Ruhig blieben, Waffen fallen lassen", quäkte der Polizist aus dem Megafon.

"Wir sind unbewaffnet, was soll das?" rief der Mann mit dem Hund.

Da hielt es Frau Spelzer nicht mehr aus. Bevor jemand sie daran hindern konnte, tauchte sie unter der Absperrung hindurch, rannte hin zu den Männern und warf sich demjenigen mit dem blutigen Hemd in die Arme.

Die Kliebenschädel rannte gleich hinterher, entschlossen auf ihren hohen Absätzen balancierend. Dabei holte sie ein kleines Aufnahmegerät aus ihrer Umhängetasche. Sie stellte sich vor dem Mann im Arztkittel auf.

"Kliebenschädel vom Blatt. Weshalb haben Sie Herrn Spelzer entführt?"

"Entführt?", fragte der zurück. "Spinnen Sie? Was ist hier überhaupt los?"

"Zumindest haben Sie ihn schwer verletzt. Hatten Sie Streit?", setzte die Reporterin nach.

"So ein Quatsch", mischte sich der mit dem bandagierten Hund ein. "Mein Hund wurde verletzt."

"Ja, er rannte oben auf der Strasse direkt vor meinen Wagen", sagte der mit dem blutigen Hemd, der offenbar der vermeintlich entführte Herr Spelzer war. "Ich konnte nicht mehr bremsen. Ich habe ihn aufgenommen, in meinen Wagen gelegt und Herrn Metzger informiert."

"Wir haben ihn gleich zu Doktor Grübel gefahren", sagte Herr Metzger.

"Seine Verletzungen sind glücklicherweise nicht allzu schlimm", erklärte der Tierarzt. "Er wird es überstehen. Aber jetzt erklären sie uns, was hier los ist."

"Ich bin schuld", sagte Frau Stelzer."Ich erkläre es euch."

Die Kliebenschädel packte ihr Aufnahmegerät ein und kam zurück zu Schwab und Tanner. "Ich schreibe wohl doch eine besinnliche Geschichte für die morgige Ausgabe", sagte sie lächelnd zu Tanner.

Der grinste zurück und stiess seinen Kollegen mit dem Ellbogen an.

"Na, Schwab, wird Ihnen da nicht auch ganz weihnachtlich ums Herz?"